DER LETZTE STICH


*Ein Winterthurer Schuhmacher-Krimi von René Hess *


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**Kapitel 1: Der Schuh, der nicht passt**


Der Duft von Leder und Schuhcreme hing wie immer in der Werkstatt, als die Glocke über der Tür schepperte. René Hess blickte von der Orthopädie-Sohle auf, die er gerade bearbeitete, und erstarrte.


"Grüezi, René." Die Stimme hatte er 35 Jahre nicht gehört, doch er hätte sie überall erkannt.


Sandra Moser stand in der Tür, ihr graumeliertes Haar vom Novemberwind zerzaust. In ihren blauen Augen lag dieselbe Unruhe wie damals in Thun. René spürte, wie seine Finger unwillkürlich nach der Erkennungsmarke in seiner Tasche griffen, die er all die Jahre aufbewahrt hatte.


"Das ist ein... unerwarteter Besuch", brachte er heraus.


Bevor Sandra antworten konnte, schob sich ein Mann an ihr vorbei in den Laden. Daniel Koller. Sein Gang war ungleichmäßig - die Prothese, die René ihm vor zwei Jahren angepasst hatte, schien ihm heute merkwürdig schwer zu fallen.


"Ich brauch 'ne kleine Anpassung, Hess", knurrte Daniel und klopfte gegen den Carbonfaser-Schaft. "Die drückt am Stumpf."


René nahm die Prothese in die Hände. Sofort spürte er das ungewöhnliche Gewicht. "Was hast du hier eingebaut? Eine Batterie?"


Daniels Augen verengten sich. "Modernste Technik. Nicht dein altmodisches Zeug." Er riss die Prothese aus René's Händen und humpelte hinaus, nicht ohne Sandra einen vielsagenden Blick zuzuwerfen.


Als die Tür zufiel, herrschte Schweigen. Dann sagte Sandra leise: "Er schmuggelt Sprengstoff in der Prothese, René. Und du bist sein nächster Ziel."


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**Kapitel 2: Zerrissene Fäden**


Die Rückblende kam ungebeten: Thun, 1988. Die nasse Kälte in den steinernen Kasernenwänden. Sandra, die ihm in der Dunkelheit des Arsenals zärtlich über das kurzgeschorene Haar strich. "Egal was kommt, wir halten zusammen", hatte sie geflüstert.


Dann war sie einfach weg gewesen. Kein Brief, keine Nachricht. Nur seine zertrennte Erkennungsmarke als stummes Zeugnis ihrer Liebe.


Jetzt stand sie wieder vor ihm, die Jahre hatten ihre Stirn gefurcht, aber nicht die Intensität ihres Blickes gemindert. "Man hat mich damals gezwungen, dich zu bespitzeln", gestand sie. "Als ich mich weigerte, haben sie mich versetzt."


René spürte, wie alte Wut in ihm aufstieg. "Und jetzt? Warum kommst du jetzt?"


"Daniel plant einen Anschlag auf das Armeedepot in Thun. Mit deinen orthopädischen Anpassungen als Transportmittel." Sie zog ein Röntgenbild aus ihrer Tasche. "Das ist keine Batterie. Das ist C4."


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**Kapitel 3: Der Lehrling und die Prothese**


Matthew, René's Lehrling, warf einen skeptischen Blick auf die Röntgenaufnahme. "Das erklärt, warum in letzter Zeit so viele Amputierte 'Anpassungen' wollten." Der junge Mann kratzte sich am Kinn. "Chef, erinnern Sie sich an Herrn Glauser? Der hatte genau dieselbe ungewöhnliche Schwere."


René fuhr sich durch die Haare. Glauser, Bauer, Meier - alles ehemalige Militärs, alle mit Beinamputationen. Er ging zum Regal und zog eine Kartei hervor. "Hier. Drei 'Wartungen' in den letzten zwei Monaten. Alle in derselben Zürcher Werkstatt."


"Die gibt's nicht mehr", warf Matthew ein. "Bin letzte Woche vorbeigefahren. Abgerissen."


Ein Blick genügte. Beide wussten: Das war der Beweis.


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**Kapitel 4: Die Falle**


Die alte Goldiger-Werkstatt in Zürich roch noch immer nach Leder und Leim, obwohl der Betrieb seit Jahren geschlossen war. René tastete sich durch den dunklen Raum, jede Erinnerung an seine Lehrzeit schmerzte wie eine offene Wunde.


Plötzlich ein Geräusch. Daniel tauchte aus dem Dunkel auf, eine Pistole in der Hand. "Ich wusste, dass du hierher kommen würdest, Hess. Nostalgie war immer deine Schwäche."


Dann sah René die Kisten. Dutzende Prothesen, alle mit dem Siegel seiner Werkstatt. "Warum?", brach es aus ihm heraus.


"Geld. Was sonst?" Daniel lachte. "Aber jetzt wird deine Werkstatt brennen - mit allen Beweisen. Und du leider drin."


In diesem Moment krachte die Tür ein. Sandra stürmte herein, gefolgt von der Polizei. "Es ist vorbei, Daniel! Wir haben das Depot in Thun gesichert."


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**Kapitel 5: Der letzte Stich**


Ein Jahr später stand René vor seinem renovierten Geschäft. Das neue Schild blinkte in der Wintersonne: "Hess & Moser - Orthopädie und Maßschuhe".


Sandra trat neben ihn, eine Tasse Kaffee in der Hand. "Denkst du manchmal noch daran? An Daniel? An Thun?"


René zog die zertrennte Erkennungsmarke aus der Tasche. "Jeden Tag. Aber jetzt schauen wir nach vorn." Er zeigte auf den freien Platz neben seinem Namen am Schild. "Da gehört noch was hin."


Sandra lächelte und holte etwas aus ihrer Tasche - die andere Hälfte der Erkennungsmarke. "Wie wär's mit 'Zusammen gehörig seit 1988'?"


Drinnen hämmerte Matthew an einer neuen Prothese - diesmal für einen echten Kriegsveteranen. Durch die Scheibe sah er, wie sich die beiden küssten, und rollte lachend die Augen. "Endlich."


Dann klingelte das Telefon. Eine neue Herausforderung wartete.